Ein­füh­rungs­state­ment von Dr. Ans­gar Klein, Ge­schäfts­füh­rer des Bun­des­netz­werks Bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment (BBE)
Zwei­ter Run­der Tisch: Me­mo­ran­dum für bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment in Berlin

[21] Die so­eben er­ar­bei­te­ten Sta­tu­ten des „Bun­des­netz­werks Bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment“ in Form des 15 Punk­te Pa­piers kön­nen als po­li­ti­sches Ak­ti­ons­pro­gramm und Me­mo­ran­dum für bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment ge­se­hen wer­den. Ich kann die­sem Kreis an­bie­ten, sich dar­aus An­re­gun­gen für das Ber­li­ner Me­mo­ran­dum, so­weit über­trag­bar, zu holen. 

Ei­ne in­ten­si­ve Dis­kus­si­on zur Be­griff­lich­keit des bür­ger­schaft­li­chen En­ga­ge­ments gab es be­reits in der En­quete-Kom­mis­si­on zur „Zu­kunft des Bür­ger­schaft­li­chen En­ga­ge­ments“ und im „Bun­des­netz­werk Bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment“, das sich im letz­ten Jahr kon­sti­tu­iert hat. Im Fol­gen­den möch­te ich ei­ni­ge Ge­dan­ken da­zu vorstellen. 

Das Span­nungs­feld zwi­schen all­ge­mei­nem bür­ger­schaft­li­chen En­ga­ge­ment und dem po­li­ti­schen En­ga­ge­ment im en­ge­ren Sin­ne wur­de aus­ge­lo­tet und auf­ge­zeigt. Die­se Be­rei­che sind mit­ein­an­der ver­bun­den und müs­sen zu­sam­men­hän­gend ge­se­hen werden. 

Das klas­si­sche Eh­renamt gilt mitt­ler­wei­le vie­ler­orts trotz an­hal­tend gro­ßer Be­deu­tung als an­ti­quier­ter Be­griff, jün­ge­re Leu­te be­nut­zen den Be­griff Frei­wil­li­ges En­ga­ge­ment, der mehr Selbst­be­wusst­sein und Selbst­be­stimmt­heit mit dem En­ga­ge­ment verbindet. 

Die Selbst­hil­fe, als Hil­fe für an­de­re aus der ei­ge­nen Be­trof­fen­heit her­aus, muss auch zum bür­ger­schaft­li­chen En­ga­ge­ment ge­rech­net wer­den. Zur Zeit en­ga­gie­ren sich mehr als zwei Mil­lio­nen Men­schen al­lein im Be­reich der Selbsthilfe. 

Der Be­griff des „so­zia­len Ka­pi­tals“ ist für die Dis­kus­si­on wich­tig: Die ame­ri­ka­ni­schen Ge­sell­schafts­wis­sen­schaft­ler Co­le­man und Put­nam [Für ei­nen ers­ten Über­blick sie­he J.S. Co­le­man 1988: So­cial Ca­pi­tal in the Crea­ti­on of Hu­man Ca­pi­tal, in: Ame­ri­can Jour­nal of So­cio­lo­gy, 94, Sup­ple­ment, 95–120; Put­nam, R.D. 2002: So­zia­les Ka­pi­tal in der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und in den USA, in: Deut­scher Bun­des­tag, En­quete-Kom­mis­si­on „Zu­kunft des Bür­ger­schaft­li­chen En­ga­ge­ments“ (Hrsg. ): Bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment und Zi­vil­ge­sell­schaft, Op­la­den, 257–271.] le­gen in ih­rer Ana­ly­se den Fo­kus auf das Ver­trau­en in die Ge­sell­schaft, dar­aus ge­ne­riert sich der Zu­sam­men­halt in der Ge­sell­schaft. Dem ge­gen­über hebt der fran­zö­si­sche Theo­re­ti­ker Bour­dieu [ P. Bour­dieu 1983: Öko­no­mi­sches Ka­pi­tal, kul­tu­rel­les Ka­pi­tal, so­zia­les Ka­pi­tal, in: R. Kre­ckel (Hrsg.): So­zia­le Un­gleich­hei­ten, So­zia­le Welt, Son­der­band 2, Göt­tin­gen, 183–198] auf die so­zia­le Un­gleich­heit ab und be­wer­tet bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment als so­zi­al­struk­tu­rel­le Res­sour­ce, ver­bun­den mit ei­ner Transferleistung. 

Für die Ent­wick­lung ei­nes Me­mo­ran­dums ist das Ver­ständ­nis für die so­zi­al­in­te­gra­ti­ven Po­ten­tia­le des bür­ger­schaft­li­chen En­ga­ge­ments – und nicht nur für sei­ne im en­ge­ren Sin­ne po­li­ti­schen Po­ten­tia­le – ent­schei­dend. So soll­te sich z.B. die Pra­xis ei­nes mul­ti-eth­ni­schen Sport­ver­eins in ei­nem Me­mo­ran­dum wie­der­fin­den. Das En­ga­ge­ment ist da­bei als wich­ti­ger In­te­gra­ti­ons­an­satz zu bewerten.

[22] En­ga­ge­ment­för­de­rung und ‑po­li­tik wird im Ver­ständ­nis des Bun­des­netz­wer­kes so­wohl als Quer­schnitts­po­li­tik als auch als Be­reichs­po­li­tik be­han­delt. Be­ach­tet wer­den muss, dass sich quer­schnit­ti­ge und be­reichs­spe­zi­fi­sche An­sät­ze ge­gen­sei­tig er­gän­zen und nicht aus­schlie­ßen und es soll­te ein Zu­sam­men­hang her­ge­stellt wer­den zwi­schen En­ga­ge­ment­po­li­tik und De­mo­kra­tie­po­li­tik, der den Aus­bau der Ge­stal­tungs­mög­lich­kei­ten für die Bür­ge­rin­nen und Bür­ger er­mög­licht. Der Ge­stal­tungs­auf­trag muss Ge­stal­tungs­op­tio­nen der ge­sell­schaft­li­chen Par­ti­zi­pa­ti­on für Bür­ge­rin­nen und Bür­ger be­reit hal­ten. Dar­aus kön­nen sich Ver­ant­wor­tungs­pro­ble­me er­ge­ben: Wer ent­schei­det letzt­lich in ei­ner re­prä­sen­ta­ti­ven Demokratie? 

Auf kom­mu­na­ler Ebe­ne gibt es in­ter­es­san­te In­itia­ti­ven, wie z.B. die der Bür­ger­mit­ge­stal­tung in Form der Bür­ger­haus­hal­te. Als be­kann­tes Bei­spiel ist hier Por­to Al­legre in Bra­si­li­en zu nen­nen. Mit die­sem Kon­zept wer­den die „Hei­li­gen Kü­he“ der Ver­wal­tung ge­schlach­tet und die Ernst­haf­tig­keit des bür­ger­schaft­li­chen Be­tei­li­gungs­an­spruchs auf die Pro­be gestellt. 

En­ga­ge­ment­po­li­tik darf nicht nur ein Ap­pen­dix sein, son­dern muss wei­ter­ge­hend die De­mo­kra­ti­sie­rung öf­fent­li­cher Ein­rich­tun­gen, wie z.B. Schu­len, Kin­der­gär­ten, Kin­der­ta­ges­stät­ten, Kran­ken­häu­ser d.h. die gan­ze Viel­falt von Ein­rich­tun­gen mit ih­ren pro­fes­sio­nel­len und bü­ro­kra­ti­schen Struk­tu­ren er­rei­chen. Auf die­sem Hin­ter­grund kön­nen die Struk­tu­ren nicht so blei­ben, wie sie sind. Blo­ße Ap­pel­le rei­chen eben nicht aus – die För­de­rung des bür­ger­schaft­li­chen En­ga­ge­ments er­for­dert struk­tu­rel­le und in­sti­tu­tio­nel­le Reformen. 

Das kann am Bei­spiel Schu­le ver­deut­licht wer­den: Be­stehen­de In­stru­men­te wie z.B. El­tern- und Schü­ler­mit­ver­wal­tun­gen sind bis­her oft­mals nur auf Rand­ent­schei­dun­gen und nicht auf die Kern­be­rei­che der Schu­le aus­ge­rich­tet. Als po­si­ti­ves Bei­spiel ist hin­ge­gen das Kon­zept „Ser­vice-Lear­ning“ zu nen­nen: Da­bei muss die Ver­än­de­rung der bü­ro­kra­ti­schen Struk­tur von „Schu­le“ als Vor­aus­set­zung für die Öff­nung der Schu­le in die Bür­ger­ge­sell­schaft ent­wi­ckelt werden. 

De­mo­kra­tie- und En­ga­ge­ment­po­li­tik im Zu­sam­men­hang ist als ein sehr kom­ple­xes The­ma ge­sell­schafts­po­li­ti­scher Art zu ver­ste­hen, die­se Ver­bin­dung soll­te in ei­nem Me­mo­ran­dum ei­ne Rol­le spielen. 

Be­son­ders hin­wei­sen möch­te ich da­bei auf ei­ne pro­ble­ma­ti­sche Auf­fas­sung von Bür­ger­ge­sell­schaft, die Staat, Markt und Drit­ten Sek­tor als se­pa­ra­te Be­rei­che wahr­nimmt und den Drit­ten Sek­tor mit der Bür­ger­ge­sell­schaft gleich­setzt. Es ist je­doch nicht hilf­reich, dies so zu den­ken. Viel­mehr ist die Bür­ger­ge­sell­schaft der Zu­sam­men­hang die­ser drei Sek­to­ren, die mit­ein­an­der in­ter­agie­ren und Schnitt­flä­chen zu­ein­an­der aus­bil­den. Die­se müs­sen son­diert und ge­stärkt wer­den und in ei­nem Me­mo­ran­dum zum The­ma ge­macht wer­den. Da­bei geht es bis in die Struk­tu­ren von Ein­rich­tun­gen hin­ein und be­deu­tet, dass in die­se Struk­tu­ren die Mit­wir­kung der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger stär­ker ein­be­zo­gen wer­den muss. 

Ich möch­te hier kei­ne aus­ufern­de to­po­gra­fi­sche De­bat­te um Be­grif­fe und ge­sell­schaft­li­che Be­deu­tung im Kon­text der Bür­ger­ge­sell­schaft füh­ren. Ein Haupt­aspekt bleibt je­doch die Schnitt­flä­che der Sek­to­ren: Staat – Wirt­schaft und Drit­ter Sek­tor. Die Qua­li­tät des Zu­sam­men­spiels die­ser drei Sek­to­ren ent­schei­det über die „bür­ger­schaft­li­che Qua­li­tät“ die­ser Ge­sell­schaft. Die­se Sicht­wei­se er­öff­net den Zu­gang zu dif­fe­ren­zier­ten In­ter­ven­ti­ons­ebe­nen der En­ga­ge­ment­för­de­rung [23] (von der Leit­bild­de­bat­te über die Or­ga­ni­sa­ti­ons­re­form bis zu recht­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen) und schließt die Ma­nage­ment- und Or­ga­ni­sa­ti­ons­po­li­tik von Ver­bän­den und Ein­rich­tun­gen mit ein. En­ga­ge­ment­för­de­rung darf nicht ste­hen blei­ben bei ei­ner rei­nen Re­kru­tie­rungs­stra­te­gie von „mehr Frei­wil­li­gen“. Es be­steht durch­aus die Ge­fahr, dass En­ga­ge­ment als „Aus­fall­bür­ge“ miss­braucht wird, um die En­ga­gier­ten in die­se Lü­cken hin­ein zu re­kru­tie­ren, aus de­nen sich der Staat zu­rück­zieht und wo pro­fes­sio­nel­le Ar­beit re­du­ziert wer­den muss. Wenn man so vor­geht, läuft man Ge­fahr, dass die En­ga­gier­ten de­mo­ti­viert wer­den und abspringen. 

Ins­be­son­de­re, da sich die Mo­ti­ve der En­ga­gier­ten ver­än­dert ha­ben. Die so­zio­lo­gi­sche De­bat­te über den Wer­te­wan­del und das „Neue Eh­ren­amt“, über den Mo­tiv­wan­del für das En­ga­ge­ment, bis hin zu pro­jekt­be­zo­ge­nem En­ga­ge­ment muss Be­ach­tung fin­den. Das be­deu­tet für das Ver­fas­sen ei­nes Me­mo­ran­dums, nicht nur in Re­kru­tie­rungs­stra­te­gien ab­zu­glei­ten, son­dern ad­äqua­te Rah­men­be­din­gun­gen für En­ga­gier­te deut­lich zu ma­chen, ein­zu­for­dern und die ver­schie­de­nen Schnitt­stel­len der In­ter­ven­ti­ons­mög­lich­kei­ten der En­ga­ge­ment­för­de­rung zu benennen. 

Fol­gen­de Punk­te soll­ten im Me­mo­ran­dum noch Be­rück­sich­ti­gung finden:
• die Dif­fe­renz zwi­schen der Ber­li­ner Lan­des- und Stadt­po­li­tik soll­te deut­lich ge­macht wer­den, da­mit man mit der Län­der­ebe­ne stär­ker in­ter­ve­nie­ren kann
• die Migranten/​innen als Ziel­grup­pe für die In­te­gra­ti­ons­po­li­tik soll­ten auf­ge­nom­men wer­den und ei­ne ei­ge­ne kom­mu­na­le De­bat­te über För­de­rung und In­te­gra­ti­on von Migranten/​innen an­ge­sto­ßen werden
• das bür­ger­schaft­li­che En­ga­ge­ment soll­te durch­aus auch das se­gre­gier­te En­ga­ge­ment von ein­zel­nen eth­ni­schen Grup­pen un­ter­stüt­zen, da es das ge­samt­ge­sell­schaft­li­che En­ga­ge­ment för­dert und zur In­te­gra­ti­on bei­trägt (da­zu sie­he die neue „Ber­lin-Stu­die“ des WZB zum En­ga­ge­ment von Migranten/​innen)

Im Bun­des­netz­werk Bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment wur­de ent­schie­den, dass es 2004 ei­ne „Wo­che des En­ga­ge­ments“ ge­ben soll. Frau Schaaf-De­richs vom Treff­punkt Hilfs­be­reit­schaft als Grün­de­rin des Ber­li­ner Frei­wil­li­gen­ta­ges gibt uns für un­ser Vor­ha­ben auf Bun­des­ebe­ne wich­ti­ge Hinweise. 

Die bun­des­po­li­ti­sche Ein­schät­zung der Si­tua­ti­on nach dem In­ter­na­tio­na­len Jahr der Frei­wil­li­gen 2001 und dem En­de der En­quete ‑Kom­mis­si­on wird da­hin­ge­hend be­wer­tet, dass das öf­fent­li­che In­ter­es­se am The­ma bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment wie­der zu­rück­ge­gan­gen ist. Um die­sem Trend et­was ent­ge­gen zu set­zen, soll die „Wo­che des En­ga­ge­ments“ die Auf­merk­sam­keit wie­der erhöhen. […]

Ab­schlie­ßend möch­te ich sa­gen, dass das 15 Punk­te Pa­pier des Bun­des­netz­wer­kes jetzt ver­stärkt kom­mu­ni­ziert und rea­li­siert wer­den muss. Bür­ger­schaft­li­ches [24] En­ga­ge­ment wird zu­neh­mend ein ge­sell­schafts­po­li­ti­sches The­ma mit gro­ßer Zu­kunft und nicht nur ein „Aus­fall­bür­gen­the­ma“ sein. Es ist zu be­grü­ßen, dass das Me­mo­ran­dum mit ei­nem an­schlie­ßen­den Char­ta­pro­zess in Ber­lin an­ge­sto­ßen ist. Wich­tig ist da­bei im Au­ge zu be­hal­ten, dass die Ent­wick­lung ei­nes Me­mo­ran­dums nicht als ab­schlie­ßen­der Ziel­punkt ver­stan­den wird, son­dern ei­gent­lich erst den Be­ginn ei­ner wei­ter­füh­ren­den Ent­wick­lung des bür­ger­schaft­li­chen En­ga­ge­ments für die­se Stadt be­deu­tet.

Quel­le: Treff­punkt Hilfs­be­reit­schaft. Die Ber­li­ner Frei­wil­li­genagen­tur (Hrsg.), 2004: Do­ku­men­ta­ti­on der Run­den Ti­sche zur För­de­rung des Frei­wil­li­gen En­ga­ge­ments in Ber­lin 2003. Ber­lin, 21–24